Das Sibilim ist ein musikalisches Interface, das auf der Kombination einer Smartphone-App mit einem speziell konstruierten Resonanzkörper aus Pappe basiert. Herzstück ist hierbei eine Pappschachtel, die als Resonanzkörper für die Klangwiedergabe dient. Auf dieser liegt ein Smartphone, auf dem eine spezielle App läuft, die Triggerfunktionen für Samples und Synthesealgorithmen bereitstellt. Auch bietet die App klassische Steuerungsmöglichkeiten wie Oktave, Transponierung und Klangfarbenauswahl, die über den Touchscreen erreichbar sind. Die Bibliotheken, auf denen die Klangerzeugung der App basiert sind plattformübergreifend. Dabei ist das Gerät so ausgerichtet, dass die Kameralinse des Handys durch eine Öffnung auf der Oberseite der Box hindurch Videodaten von der Innenseite der Konstruktion aufnehmen kann.
Außerdem befinden sich auf der Oberseite der Box Steuerknöpfe, in Form von gefederten Stäbchen, die sich per Fingerdruck in die Box hinein versenken lassen. Am unteren Ende dieser Stäbchen befinden sich runde, farbige Holzkugeln, die als Anhaltspunkte/Markierungen für die Smartphone-Kamera fungieren, anhand derer die Bewegungsdaten der Druckknöpfe vom Handy erkannt werden.
Durch die Bewegung der Stäbchen der Druckknöpfe und ihrer dazugehörigen Marker können so drei Formen von MIDI-Daten generiert werden: Note-On- und Note-Off-Events, Velocity-Werte und andere kontinuierliche Kontrolldaten (MIDI-CC’s). An-Aus-Befehle werden hierbei realisiert, sobald der Marker eines Knopfes einen mittig im Bewegungsspielraum des jeweiligen Stäbchens liegenden Schwellenwert unter- bzw. überschreitet. MIDI-CC’s kommen über vertikale Positionsveränderungen der Marker zustande und Velocity-Werte generieren sich aus der Veränderungsgeschwindigkeit der Markerposition.
Mittler zwischen der Kameralinse und den Markern ist hierbei ein im Gehäuse des Interfaces angebrachter Spiegel. Dieser bricht durch seine Neigung im 45°-Winkel die Reflexionen der Marker im 90°-Winkel. So fallen diese Spiegelungen ins Sichtfeld der Kamera. Ist das Gerät zum ersten Mal in einer bestimmten Form zusammengebaut worden, muss es stets erst einmalig kalibriert werden, damit die Software die Marker zuverlässig ohne Fehltriggerungen erkennt. So wird sichergestellt, dass wirklich auch nur bei Betätigung der Knöpfe vom Smartphone Sound generiert wird, indem ein mit dem Handy verbundener Tonabnehmer die Resonanzbox zum Schwingen bringt.
Die Idee hinter Sibilim ist die eines Interfaces für Schulungs- und Übungszwecke im Kontext der Erwachsenenbildung. Dementsprechend nennen die Entwickler als Hauptziele des Geräts kostengünstige Anschaffung und variable Einsetzbarkeit.
Fazit Paper
Insgesamt wird das Interface recht gut verständlich beschrieben. Auch kommen dabei die Besonderheiten des Konzeptes gut heraus, nämlich, dass es durch die Konstruktion aus einer Pappschachtel sehr kostengünstig möglich ist, sich selbst ein Sibilim zu basteln, sofern man ein Smartphone mit der zugehörigen App besitzt und, dass theoretisch verschiedenste Steuer- und Klangkonfigurationen möglich sind. Es wird klar verständlich erklärt, dass es, um die Funktionsweise des Sibilims zu verändern genügt, die Knöpfe einfach woanders auf der Kiste zu platzieren und das Mapping zwischen App und Knöpfen den eigenen Bedürfnissen anzupassen.
Leider beschreiben die AutorInnen jedoch nur ein Anwendungsbeispiel mit zugehörigem Mapping, nämlich die Verwendung des Sibilims als Begleitinstrument bei Intonationsübungen. Andere Anwendungsfälle oder Beispiele einer Neukonfiguration des Geräts werden nicht genannt, wodurch die eigentliche Stärke der Konstruktion nicht wirklich zu 100% präsentiert wird.
Fazit Konzept
Viele Eigenschaften des Sibilims sind gut durchdacht: Die mögliche Neukonfiguration des Instruments ohne eine aufwändige elektronische Neuverkabelung wie in herkömmlichen elektronischen Geräten ist nur ein Beispiel dafür. Auch die niedrige finanzielle Hürde in der Anschaffung ist außergewöhnlich: Smartphones sind längst zu Alltagsgeräten jeder Altersklasse geworden, und nahezu Jede/r besitzt eines. Das heißt um das Sibilim zu verwenden genügt es eigentlich, zumindest wenn man von Klangverstärkung durch einen Tonabnehmer absieht, sich die Steuerknöpfe und die App zu besorgen. Eine Pappschachtel und Bastelschere wird sich wohl auch in jedem Haushalt finden lassen. Auch dass die wichtigsten MIDI-Funktionen auf so einfache Weise implementiert werden konnten, ist bemerkenswert.
Betrachtet man das Konzept genauer, fallen aber auch mögliche Schwachpunkte auf. Beispielsweise wird die Klangqualität des Interfaces in den meisten Fällen zu Wünschen übrig lassen, vor allem wenn man von rein passiver Verstärkung der Smartphone-Lautsprecher über den Papp-Resonanzkörper ausgeht. Bei aktiver Verstärkung hingegen sind interessante Klangergebnisse durchaus denkbar.
Auch in anderer Hinsicht unterscheiden sich Smartphones in der Qualität ihrer verbauten Komponenten (z.B. Kamera, Prozessor) teils gewaltig. Getestet wurde das Interface scheinbar nur mit iPhones, d.h. im High-End-Segment des Marktes und mit Geräten, die ein Betriebssystem besitzen, das bekanntermaßen besser mit Audio funktioniert als Konkurrenzprodukte. Es stellt sich daher die Frage, ob das Interface auch im Low-Budget Bereich und auf Android-Geräten gut funktioniert. Wenn nicht, müsste man die angestrebte breite finanzielle Verfügbarkeit infrage stellen.
Zweitens ist die Haltbarkeit einer Konstruktion aus Pappe im angedachten Anwendungsszenario durchaus kritisch zu sehen. Als Übungsgerät wird das Sibilim (vor allem im Kontext institutionalisierter Erwachsenenbildung) häufig wiederkehrend in der selben Konfiguration benutzt werden, d.h auch mit der selben Pappschachtel. Da stellt sich schon die Frage, wie lange Beispielsweise die Stellen, an denen die Stäbchen der Druckknöpfe durch die Pappe getrieben sind, das Dauerhafte Auf und Ab bei Betätigung aushalten. Die selbe Frage stellt sich auch, wenn ein Sibilim in mehreren Konfigurationen genutzt werden soll, denn das hätte ein häufiges Auf-, Ab- und Umbauen des Interfaces zur Folge.
Mit häufigerem Umbauen hat auch der nächste potenzielle Schwachpunkt des Geräts zu tun. Die AutorInnen erwähnen in ihrem Artikel nicht, ob sich Konfigurationen und Mappings in Presets speichern lassen. Falls dies nicht möglich ist, bedeutet das, dass das Gerät bei jedem Umbau neu kalibriert werden muss bevor man es verwenden kann. Dies würde einen nicht zu unterschätzenden Mehraufwand für den/die UserIn bedeuten.
Apropos Mapping & Kalibrierung. Es ist fraglich, ob jede/r potenzielle NutzerIn, das nötige Know-How mitbringt, das MIDI-Mapping und die Kalibrierung selbst zu erledigen. Nimmt man zum Beispiel den Anwendungsfall des Papers, Gesangsübungen im Kontext von Erwachsenenbildung: Kann man wirklich davon ausgehen, dass beispielsweise UserInnen mittleren Alters mit MIDI-Spezifikationen vertraut sind? In vielen Fällen wohl eher nicht. Also müsste für diese Zielgruppe eine ausführliche Bedienungsanleitung, oder/und ein einfaches, verständliches Userinterface für die App konzipiert werden. Es ist, so denke ich, kein Zufall, dass laut den AutorInnen bei den Versuchen zur Usability des Geräts viele ProbandInnen angaben, lange gebraucht zu haben um die Funktionsweise des Interfaces zu verstehen. Und hier war das Mapping schon erledigt. Außerdem bleibt abzuwarten, wie praktikabel (auch angesichts der schon angesprochenen Qualitätsunterschiede von Smartphone-Kameras) die Kalibrierung des optischen Abtastsystems tatsächlich ist.
Schließlich gilt es noch zu überlegen, ob ein neu entwickeltes musikalisches Steuer-Interface, dass “nur” traditionelle Tasten-Interaktion erlaubt, noch zeitgemäß ist. Interessant wäre zum Beispiel, zusätzlich zu den Druckknöpfen auf der Pappbox andere Interaktionsmöglichkeiten mit dem Interface softwareseitig einzubinden. Denkbar wäre hier die Verwendung von Aufnahmen mit Hilfe des Smartphone-Mikrofons, oder aber die Implementierung einer Steuerung mit Hilfe der Beschleunigungssensoren des Handys.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Sibilim, vor allem aufgrund seiner vergleichsweise einfachen Rekonfiguration der Funktionsweise eine interessante Herangehensweise an das Konzept “neue musikalische Interfaces” ist. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch auch deutlich, dass das Projekt sich noch in seiner Anfangsphase befindet und noch viele Fragen bzgl. der Usability zu klären sind, und auch die grundlegende Funktionsweise noch Feinschliff benötigt.
Quelle
De Souza Nunes, H. et al.: Sibilim. A low-cost customizable wireless musical interface. Proceedings of the International Conference on New Interfaces for Musical Expression, 2019, S.15-20 (online verfügbar, zuletzt abgerufen: 02.04.2020).