Anatomie der Buchstaben

In der Schriftgestaltung gibt es viele die Anatomie von Buchstaben betreffende Prinzipien. Wenn man vorhat eine Schrift zu gestalten, sollte man diese Prinzipien kennen und berücksichtigen. Buchstaben sind nicht an einem Tag entstanden, sondern haben sich über hunderte von Jahren entwickelt. Viele Experten haben es sich zur Aufgabe gemacht ein möglichst lesbares und regelmäßiges Schriftbild zu schaffen. Die Anatomie von Buchstaben ist komplexer, als auf den ersten Blick vermutet. Viele der optischen Korrekturen sind für unser bloßes Auge kaum bis gar nicht erkennbar, machen aber einen riesengroßen Unterschied für das Aussehen und die Qualität einer Schrift. Natürlich müssen nicht immer alle Regeln und Prinzipien stur befolgt werden. Allerdings haben diese auch ihren Hintergrund und Zweck und sollten deshalb nicht ausser Acht gelassen werden. Im Laufe der nächsten Blogposts werde ich auf die Anatomie sämtlicher Buchstaben eingehen. Den Anfang macht das O. 

Das O

Das O ist oftmals einer der ersten Buchstaben in den Entwurfsskizzen. Der Buchstabe scheint auf den ersten Blick eine sehr einfache Konstruktion zu sein. Ein O ist aber keinesfalls ein korrekter Kreis oder Oval – die Rundungen sind optisch korrigiert. Der Aufbau dieser Rundungen muss sehr sorgfältig erfolgen. Die Gestaltung des kleinen o beziehungsweise die Strichstärke des Bogens bestimmt die maximale Strichstärke der gebogenen Teile aller anderen Buchstaben, ist also entscheidend für die Rundungen einer Schrift. 

Kreis < Quadrat

Ein Kreis mit einem Durchmesser, der der Seitenlänge eines Quadrates gleicht, wird immer kleiner wirken. Deshalb muss die Größe des O (und auch aller anderen Rundungen) optisch korrigiert werden – die Rundung ragt dabei ein wenig (circa 2-3%) über die Grundlinie und Versalhöhe oder Mittellänge hinaus. Dies nennt man Überhang.

Die optische Achse

Neigungsachse und Strichkontrast haben ihren Ursprung in der Handschrift: die Schreibfedern wurden in einem Winkel von 30-45° gehalten. Im Laufe der Zeit richtete sich die Achse zunehmend auf, während das O gleichzeitig ovaler wurde. Auch bei einer stark geneigten Achse bleibt die Außenkontur aufrecht, während die Achse vorwiegend durch die Form beziehungsweise Neigung der Punze (innere Kontur) erzeugt wird. Die äußere Kontur ähnelt optisch eher einem Kreis, während die innere Kontur ovaler ist.
Groß- und Kleinbuchstaben sind nicht immer gleich stark geneigt – Versalien sind häufig stärker geneigt.

Strichkontrast

Der Strichkontrast bei Großbuchstaben kann etwas größer ausfallen, als bei Kleinbuchstaben, um ein optisch passendes Ergebnis zu erhalten.
Auch Schriften mit scheinbar keinem Kontrast besitzen einen geringen Strichstärken-Kontrast, damit sie nicht unausgewogen beziehungsweise horizontal breiter aussehen. 

Der Knochen-Effekt

Bei klassizistischen Schriften wird die Punze aus einem Rechteck und zwei Halbkreisen konstruiert. Nimmt man keine optischen Korrekturen vor, wirkt es, als hätten die Außenseiten des Rechteckes eine Delle nach innen. Der Übergang von der Kurve zur Gerade muss optisch korrigiert, also etwas „weicher“ gestaltet werden, um diesen sogenannten Knochen-Effekt zu vermeiden.

Der perfekte Kreis

Bei geometrischen und humanistischen Schriften wirkt das O häufig wie ein geometrischer Kreis. Kreise und Quadrate müssen allerdings etwas höher gezeichnet werden, um optisch auch wie ein geometrischer Kreis/Quadrat zu wirken.